Selbstbestimmung und Inklusion: Auf den "Blickwinkel" kommt es an

21. August 2013

„Nichts über uns - ohne uns!“ So das klare Ergebnis des Dialogs zwischen Vertreter/Innen des Bundesvorstandes der „Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv - Menschen mit Behinderungen in der SPD“ mit der SPD-Bundestagsfraktion. An dem Gespräch nahmen auch kooperierende Partner/Innen des Bundesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. und vom Verband der Contergangeschädigten teil. Anlass dieses Treffens war die Ausstellungseröffnung „Blickwinkel“ in der Berliner Landes-vertretung von Rheinland-Pfalz. Mit ihren Werken zeigen sechs Künstler/Innen welche physischen oder mentalen Barrieren Menschen mit Behinderung an der gleichberechtigten Teilhabe hindern.

Ich engagiere mich sehr für eine inklusive Gesellschaft. Deshalb bin ich als Mitglied des Gesundheitsausschusses und des Landesvorstandes der Berliner Arbeitsgemeinschaft „Selbst Aktiv“ dem Wunsch nach einem Gespräch mit Vertreter/Innen der SPD-Bundestagsfraktion sehr gerne gefolgt. Die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft ist unser aller Aufgabe. Begrüßt werden die auf der vom Deutschen Bundestag organisierten Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“ geforderten sowie die im SPD-Regierungsprogramm festgelegten politischen Vorhaben.

„Nichts über uns - ohne uns“ „Nichts über uns - ohne uns“ ist die richtige Forderung der Selbsthilfever-bände an „die Politik“, auch an die SPD-Bundestagsfraktion. Der Dialog mit den Verbänden der Behindertengemeinschaft muss unbedingt weitergeführt und die direkte Kooperation mit Teilhabeverbänden, die sich aus betroffenen Menschen zusammensetzen, wie beispielsweise der Bundesvereinigung Lebenshilfe oder dem Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK) intensiviert werden. Diese sind die Experten/Innen in eigener Sache.

Etwa die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist direkt oder indirekt auf Barrierefreiheit angewiesen: rund 13 Millionen Menschen mit einem Behindertenausweis dazu kommen die vielen Menschen mit Beeinträchtigungen, aber ohne Ausweis und deren Angehörige, Helfer- / Innen, Assistent/Innen, Pfleger/Innen, Ausbilder/Innen usw., die sich im Behindertenumfeld bewegen. Zusammengerechnet ist dass eine Summe von mehr als 50 Millionen mittelbar oder unmittelbar von Behinderung betroffenen Menschen in Deutschland. Aber auch Eltern mit Kinderwagen oder ältere Menschen mit Rollator. Es geht um selbstbe-stimmte Teilhabe als Menschenrecht. Wie viele Missstände es noch zu ändern gilt, machten die Vertreter/Innen der Selbsthilfeorganisationen sehr deutlich. Mit dabei waren: Susanne Fuchs vom BSK, Bianca Vogel, 2. Vorsitzende des Interessenverbandes Contergangeschädigten Nordrhein-Westfalen e.V. und zweifache Gewinnerin der Silbermedaille bei den Paralympischen Spielen im Dressurreiten, Sascha Bell von PRO Budget - Netzwerk für Nutzer/Innen des Persönlichen Budgets in Rheinland-Pfalz sowie die stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv - Menschen mit Behinderungen in der SPD Sibylle Brandt, Landesvorsitzende der AG Selbst Aktiv Bayern, Christina Fuchs, Leiterin der Kontaktstelle Selbsthilfe Körperbehinderter Rhein/Ahr, und Gerd Miedthank vom Landesvorstand der Berliner Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv.

  • Viele Menschen mit Behinderungen werden aus ihren Wohnungen heraus in Heime bzw. Behinderteneinrichtungen eingewiesen, obwohl sie mit entsprechenden Hilfsmitteln / Assistenz in ihrer vertrauten Umgebung bleiben und zu Recht kommen könnten.
  • Menschen mit Behinderungen werden zu wenig in die Planung öffentlicher Bauten eingezogen.
  • Es fehlt oft an einfachen und nicht mal superteuren Hilfsmitteln, um die Infrastruktur behindertengerechter zu machen: z. B. Klebemarkierungen als Blindenleitsystem bei abgesenkten Bordsteinkanten, Gummiverbindungen zwischen niedrigen Stufen für Rollstuhlfahrer und vieles mehr.
  • Behinderte Menschen/Jugendliche können häufig nicht die von ihnen gewünschte Ausbildung/Studium absolvieren, weil sie nur eine finanzielle Förderung als Sozialhilfe-Empfangende erhalten.
  • Eine Assistenzhilfe für eine behinderte Person kann u. U. von einer Person mit ähnlicher Behinderung besser gewährleistet werden als von einer nicht behinderten Person. Leider wird der Assistenzberuf im deutschen Ausbildungskatalog für behinderte Menschen nicht angeboten.
  • In Bayern werden Menschen mit Behinderung, die sich aktiv engagieren, sogar von rechtsradikalen Gruppierungen verfolgt, in „Listen“ geführt, fo-tografiert, beschimpft.
  • Die Gesellschaft stellt sich noch zu wenig auf die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen ein: So verweigern Taxifahrer des Öfteren die Beförderung von Blinden- und Assistenzhunden, Ärzte/Innen verweigern Rollstuhlfahrer/Innen den Zutritt in ihre Praxis aus Sorge um ihr Parkett.
  • Behinderten Menschen mit Assistenzhund wird der Zutritt zu Lebensmittelgeschäften verweigert, obwohl die Hygieneordnung dies ausdrücklich erlaubt.
  • Für Assistenzhunde fehlen Ausbildungsschulen und Ausbilder mit zertifizierter Ausbildung nach internationalen Standards. Entsprechend werden zu oft schlecht ausgebildete Hunde aus osteuropäischen Staaten zu geringen Preisen angeboten, was gefährlich wird, wenn das Leben der Behinderten am Hund hängt.
    Das A und O einer inklusiven Gesellschaft ist mehr Teilhabe und eine bessere Partizipation von Menschen mit Handicaps in allen Bereichen, sei es Kita, Schulen, Universitäten, Ausbildungseinrichtungen, Beruf, Sport. Auch wir Sozialdemokraten/Innen müssen in unserer SPD die innerparteiliche Diskussion dringend vorantreiben. Nur so können wir die umfassenden Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention in allen gesellschaftlichen Feldern besser und mit mehr Nachdruck umsetzen.

Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag Als gelungenes Beispiel politischer Partizipation wurde die in den Ausschusssälen des Paul-Löbe-Hauses am 26. und 27. Oktober 2012 von allen Fraktionen getragene Veranstaltung "Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag" herausgestellt. Hier haben 299 von den Fraktionen nominierte Menschen mit Behinderung als "Exper-ten/Innen in eigener Sache" und Bundestagsabgeordnete gemeinsam in zwölf Arbeitsgruppen analog der Ausschüsse des Bundestages über Barrieren und Benachteiligungen für ein selbstbestimmtes Leben am Arbeitsmarkt, im öffentlichen Nahverkehr, im Gesundheitssystem debat-tiert. Konkrete Forderungen an die Politik wurden formuliert. So wurde heiß über das uneingeschränkte Wahlrecht für Menschen mit Behinderung diskutiert.

Für uns alle gilt: Behinderung ist etwas Gesellschaftliches, ist kein isoliert zu betrachtendes „Randproblem“. Gelobt wurde, dass der Deutsche Bundestag auf seiner Internetseite auch Informationen in leichter Sprache veröffentlicht. Die nicht einfachen Abläufe der Gesetzgebung sollen so für jeden Menschen, auch denjenigen, denen das Lesen und Lernen schwerer fällt, verständlich gemacht werden.

SPD: selbstbestimmte Teilhabe als Menschenrecht Viele der grundlegenden und berechtigten Forderungen entsprechen den politischen Vorhaben, die wir Sozialdemokraten/Innen in unserem Regierungsprogramm 2013 - 2017 „DAS WIR ENTSCHEIDET“ zum gemeinsamen Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen treffen.

Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt aller zu stärken, wollen wir - inklusive Sozialräume wohnortnah in der Kommune schaffen, damit eine selbstbestimmte Teilhabe für Jede und Jeden ermöglicht wird. - das Motto „Nichts über uns - ohne uns!” mit Leben erfüllen. - den Abbau von Barrieren zugunsten mehr Selbstbestimmung, mehr Wahl-freiheit, weniger Hilfebedarf fördern und so den unter der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder erfolgten Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Teilhabe forcieren. Ziel der Reform ist ein flexibles und passgenaues Unterstützungssystem: für Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung behinderter Menschen. Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe den Menschen folgen und nicht umgekehrt. - Die mit dem SGB IX begonnene Vereinheitlichung des Rechts für Menschen mit Behinderung fortsetzen und somit Inklusion zu einem uneinschränkbarem Ziel aller Sozialgesetzbücher und Hilfeeinrichtungen machen. - ein für alle Sicherungssysteme und Leistungsträger einheitliches Bedarfsermittlungssystem schaffen und die Hilfen zur Inklusion als Anspruch zum Ausgleich von Nachteilen ausgestalten. - ein Bundesleistungsgesetz schaffen, das der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention dient und die Eingliederungshilfe in ihrer bisherigen Form ablöst; finanzielle Leistungen sind unabhängig von Einkommen und Vermögen zu machen. Das persönliche Budget als eine eignete Leistungsform für selbstbestimmte Teilhabe ist für alle in der realen Lebenswirklichkeit umsetzbar zu machen. Packen wir's an - gemeinsam!

Berichterstatter: Mechthild Rawert